Was noch nicht anders gesagt werden kann

Das Ganser Syndrom (in Wort und Bild)

Das Ganser Syndrom beschreibt ein Krankheitsbild aus der Psychiatrie. Es ist auch unter den Bezeichnungen "Pseudodebilität" und "hysterischer Dämmerzustand" bekannt. Es reicht hinein in den Bereich der "artifiziellen Störungen". Damit gerät es in jenen Bereich, der mich interessiert. (Auch wegen der Silbe art.) abgeschlagen haben; über den uns Georg Büchner Zeugnis ablegte. So dachten sie zunächst. Dass sie ihre Krankheit nur vortäuschten. Ganser erkannte um das Jahr 1897 einen Catch 22 Effekt: Er erkannte: Wer auf diese Weise verrücktspielt, kann eigentlich nicht wirklich verrückt sein. Er ist normal. Nur irgendwie anders. So formulierte er: "Die Betroffenen sind weder ´verrückt´ noch sind sie ´dumm. Sie bringen etwas zum Ausdruck, was noch nicht anders gesagt werden kann.“

Texte und Bilder nach „ICD-10“

Die Entdeckung des Sigbert Josef Maria Ganser fand Eingang in die einschlägigen Klassifikationssysteme, die die Weltgesundheitsorganisation anerkennt: ICD-10 und DSM-IV. Bei jedem Besuch beim Arzt spielt das heute für uns eine Rolle. Dem entsprechend werden wir mit kleinen Zeichen klassifiziert. Jede Krankheit wird in einen lustigen kleinen Code verwandelt. Soll geholfen werden, wird sich der Arzt danach richten. Nach diesen anerkannten Einordnungen, die entweder der "International Classification of Deseases" und der "Diagnostic an Statistical Manual of Mental Disorders" folgen. Sollte auf ihrem Attest stehen: ICD 10 F44.8, dann sind Sie nicht verrückt und auch nicht dumm. Dann haben Sie nur das Ganser Syndrom. Bei mir hat das noch niemand attestiert. Dennoch lautet meine Empfehlung: Schreiben Sie Gedichte. Malen Sie. Machen Sie Collagen. Singen Sie. Stellen Sie ICD 10 ad absurdum. Lassen Sie es reine Vernunft sein, sie hat ihren Wert, doch schon jeder Jodler lässt sich hinter sich. Sofern es eine richtiger ist. Jedes Gedicht, das das Firmament als schwarze Fahne erkennt, strebt über das hinaus, was die Vernunft will. Darauf berufe ich mich mit meinen Collagen und Gedichten. Es sind Texte und Bilder nach "ICD-10". lyrics und layouts nach DSM-IV. Beispiele für etwas, das "anders noch nicht gesagt werden kann". lyrics und covers, die so nie erscheinen werden. Ich bin mir gewiss: Selbst, wenn ich noch so gut mit Wörtern und Informationen umgehen könnte; selbst, wenn ich verstände, brillant mit Pinsel und Farben umzugehen, ich würde trotzdem auf dieses Material zurückgreifen. Weil ich so einzigartig ist. Es stellt sich selbst dar. Es ist im Nutzungszusammenhang mit sich selbst identisch. Es ist, was es ist. (Wobei dies, zugegebener Weise, in dem Moment wieder verfliegt, wenn ich es reproduziere, abbilde, ins Netzt stelle. Aber darüber sollen sich spätere Philosophen den Kopf zerbrechen.)

Mit den Ohren gedacht

Der Reiz bei der Arbeit für die Collagen beginnt lange vor dem Zusammenkleben. Er beginnt beim Sammeln. Ich wende mich dem Reiz zu, der im Gebrauchsartikel liegt: der von der Tageszeitung ausgeht, mit der ich mich tagtäglich konfrontiere. In den Illustrierten, Werbezetteln, Plakaten, Flugblättern, die mir hinterher geschmissen werden. Es ist Wegwerfmaterial; ich möchte zurück werden. Dabei reagieren ich auf Farben und Formen, wie sie mir ins Auge springen. Ich achte darauf, Fotos von bildnerischem Reiz zu sammeln, ums sie zu "samplen". Es geht mir also auch um die Bedeutung, die sie transportieren, um ihren ikonografischen Wert, und ich strebe es an, ihren Reiz auszunutzen; das ist ein bisschen so, wie es die hip hop Kultur vervollkommnet hat: das geradezu schamlose Ausnutzen von bereits Vorhandenem. Als Material. Als Basis. Als Kontrapunkt. Als Leinwand. Als Basis. Ich sammle Bilder von aktuellen Ereignissen: Katastrophen. Bilder, die zeitgeschichtlich wichtige Moment festhalten. Die aus der Geschichte stammen: Lakehurst; Nessie; rumble in the jungle.
Ich habe meist schon eine Ahnung, wozu sie dienen könnten. Letzten Endes entscheidet sich das am Tisch. Wenn das Bild wird. Ich lasse mich auf das Bild ein. Wie sich Elemente aufeinander beziehen. (Manches wird dann auch zur dekorativen Randerscheinung). Kriterien sind: wie harmonieren Bildinhalte? Wie bilden sie einen möglichst starken Widerspruch? Ich habe bemerkt, dass die Entscheidung aus einem Bereich meines Körpers stammt, die sich in Höhe meiner Ohren abspielt. Als würde ich weniger denken als hören. Obwohl ich sehe. So fühle ich.

Das Reich, aus dem die Morbs stammen

Zu den Gedichten kann ich Ähnliches erzählen: Es sind Wortcollagen. Sie bestehen aus einem Material, das ich gesammelt habe. Nicht in Kartons und Kisten, aber in gewisser Weise doch aus Zeitungen und Büchern; darüber hinaus aus Gesprächen, Filmen und Erlebnissen. Eine große Rolle spiel die Instanz der Träume. Der Rest ist Arbeit. Das Gedicht zu bauen, das dauert lange. Es gibt die Grundidee. Doch nicht alle Wörter passen dazu. Wenn ich an einem Gedichte arbeite, bemühe ich mich (ganz im Sinne meiner Interpretation des Ganser Syndroms), etwas zum Ausdruck zu bringen, das knapp neben dem Vernünftigen liegt. Das ich zum Ausdruck bringen möchte, von dem ich aber weiß, dass mit der Zauber entgleiten würde, wenn ich es explizit beschreibe. Ich behaupte: unsinnig sind sie nicht! Sie streifen den Unsinn, so ist es mir recht. Ich kümmere mich um jedes Wort. Ich spüre seinem Klang nach, prüfe es wieder und wieder. Wende es im Ohr, als sei dies mein Gaumen. Ich prüfe, ob der Zusammenhang passt. Von jedem einzelnen Wort zu seinem Nachbarn. Oder zu dem Wort, das vier Zeilen später folgt. Es ist wie sudoku mit anderen Mitteln und Regeln. Wobei ich die Regel des Reims ablehne: Er darf vorkommen. Ab und zu. Doch ich meide ich ihn wie ein Koch das Maggi.

Gesamtschau Leben

So ähneln sich Collagen und Gedichte. So lassen sie sich unter ICD-10 subsummieren.

Diese Seite funktioniert genialer Weise so, dass sie die Möglichkeit bietet, ständig – nach den Regeln des Zufalls – das eine Gedicht zu der anderen Collage – oder umgekehrt – betrachten zu können. Da sich beide aufeinander beziehen, aber nicht so wie „Text zum Bild“ oder „Bild zum Text“ – keine Illustrationen oder Erklärungen mit anderen Mitteln.

Das Mitspielen der eigenen Träume, Erfahrungen, Erinnerungen ist erlaubt und gefragt, so sehr, wie jeder Widerspruch: Was für ein Quatsch, werden viele sagen. Okay, macht es besser. Ich bin offen.

Kleben, statt gelebt zu werden. Sich ausdrücken, statt ausgepresst zu werden. Das klingt platt, ich weiß. Aber darum geht es.

 

 

Gedichte

Bau der Hölle

Collage - Nr. 14

Die Hölle wurde gerade gebaut,
da stülpte sich der geile
duftenden Hauch
eines überdimensionalen Nylonstrumpfes
über das Gesicht der junge Sonne,
als plane jemand
einen Banküberfall.

Die Welt verfinsterte sich,
so wurde die Hölle fertiggestellt.

Die Bauarbeiter
in ihren durchgeschwitzten Unterhemden,
mit ihren brodelnden Teerkessel
und ihren bestialischen Flüchen
zogen weiter,
um eine weitere Hölle zu bauen.

Sie zogen die gottgegebene Holzkiste mit sich,
auf ihren steinernen Rollen,
in der der Apfelbaum
gefangen gehalten wurde.

Da ging die Sonne unter,
schnell wie die Revolverkugel
bei einem Banküberfall,
und es glitt der Nylonstrumpf
vom schlanken, schönen Bein der Sonne.

Er fiel zur Erde,
mitten hinein in einen Garten
und biss die Arbeiter fort.

Die Holzkiste zerbrach,
und der Apfelbaum
sprengte die Ketten.

Übrig blieben
zitternde Geisel,
bleiche Engel,
bewacht von Menschen
mit brennenden Schwertern.

 

Das warme All

Collage - Nr. 18
Ich habe mein Haus gebaut
am bewachten Strand der Ursuppe,
aus Kameradenhaut
und der Spucke vieler Tintenfische.

So konnte ich ausfahren,
in meinem Einbaum
auf die weiten Wogen,
mit einem Narziss am Ruder
und Ratten im Rucksack.

Hinaus aufs Meer,
das ich für die Weite
meiner Seele hielt,
bis hin zu den Frauen,
die auf den Felsen saßen,
für mich sangen und mich lockten,
die sangen und mich erfüllten,
so dass ich das warme All fand,
mit seinem Rausch aus Schamhaaren,
reich an Stunden,
weich an Jahren.

 

Das kalte All

Collage - Nr. 14
Ich breite meine Arme aus
und werfe mich nieder
unter die schwarze Fahne des Alls;

reibe mir die Stirn wund
am billigen Teppich,
bin geröngt unter
dem blinden Auge Gottes.

Und doch bin ich,
was ich bin,
warmes Blut
im ewig kalten All.

 

Hals über Kopf für den Himmel

Collage - Nr. 20
Ein Halbtoter
steht auf dem Tisch,
mit einem Kabel
um den Hals,
der hinunter schaut
auf diese Landschaft,
die da durchs Zimmer fließt:
all dieses Gerümpel,
das die Teppiche düngt,
die sich ausdehnen
zwischen
den goldenen Pfählen
zwischen
Abendbrot und Morgenlicht,
die sich recken und strecken
bis zu den verrosteten Zäunen
an den schaumigen
Rändern der Welt.

Ein Halbtoter,
der am Kabel hinauf
in den Blauhimmel steigt,
der sich wölbt
über den gefällten Bäumen,
die neben
dem Sägewerk zitterten.

Ein Halbtoter,
der sich Mut zuspricht:
„Es ist Zeit, aufzuerstehen,
in den Saal des Himmels hinein!“

Allen Gruseldächern zum Trotz.

 

Mein stiller Freund

Collage - Nr. 27
Im Farnkraut sitzt er,
mein stiller Freund,
singend unter meinem Fenster,
mit seiner Gitarre
aus Brennnesseln im Arm,
und alles, was er träumt,
kriecht hoch an meinen
Fensterscheiben.

Im stillen Haus sitze ich,
und alles, was er träumt,
kriecht im bröckeligen Putz
und in meinen knisternden Mauern.

Im stillen Haus
bin ich niemals laut,
denn im stillen Haus
bin ich allein.

Es ist nicht leicht,
im stillen Haus zu leben,
ohne meinen Freund.

Was er träumt,
kriecht zu meinen Türen,
und langsam
ganz langsam
schließen sie sich,
nach und nach,
auch für mich.

 

Die Nacht

Collage - Nr. 21
Die Nacht
ein Jenseits
Reich der Gefallenen,
am Menschen vorbei.
Weit bis Gott
und ebenso sinnlos.
Gefürchtet:
Zuflucht, beschimpft.

Sie besteht,
selbst am Tag.
Ungesehen,
weil sie sich versteckt.
Wie die Mutter,
die dich ruft.

Unser aller Schlaf,
der uns tarnt,
auf der dunklen Seite,
außerhalb vom Schutz der Worte.

Gähnen, Raketen.

Was bleibt, ist Entsetzen.
Staunen, Stöhnen,
weh oh weh,
Angst und Schuld,
Lust und Meer:
Eintauchen?

In was denn nur. Mutter?

 

Beerdigung des Todes

Collage - Nr. 24
Ich sah, wie das Leben dastand,
auf Gleis 3, als feine Dame,
wo es auf den Zug wartete,
mit billiger Kunstlederhandtasche,
elegant über dem Unterarm geworfen,
mit silberner Armbanduhr,
die stehen geblieben war,
und mit schlecht lackierten Fingernägeln.

Mit Haarsprayduft
am Hütchen
und einem Kostüm
zur Selbsterkenntnis,
die von einem Bein
auf´s andere trat
weil keine Züge mehr kamen,
auf ewig,
die zur Beerdigung des Todes fuhren.

Während der lebensmüde Friedhofswärter die Gräber abschloss,
zum Feierabend,
und die letzten Gäste hinauswarf,
weil er in Urlaub fahren wollte,
mit dem Zug,

und ich sah, wie er dastand,
auf Gleis 1, der feine Herr,
ohne sein geöltes Moped,
im dreckigen Anzug,
mit Trauerrändern
unter den Fingernägeln,
Rasierwasserduft im Kragen,
auf dem Bahnsteig,
wo sich ein Mensch
nach dem anderen
vor die Züge warf,
die schon längst
nicht mehr fuhren.